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Einleitung

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS), früher als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt, zählt zu den komplexesten und gleichzeitig faszinierendsten psychischen Erkrankungen. Sie ist durch das Vorhandensein von zwei oder mehr unterschiedlichen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen gekennzeichnet, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten eines Menschen übernehmen. Diese Störung ist oft missverstanden und wurde in der Öffentlichkeit durch fiktionale Darstellungen in Filmen und Literatur häufig verzerrt dargestellt. 2

Die Realität der DIS ist jedoch weitaus komplexer und von größerem Leid geprägt, als populäre Darstellungen vermuten lassen. Betroffene erleben oft jahrelange Fehldiagnosen, bevor ihre Erkrankung korrekt erkannt wird. In diesem Artikel werden wir einen detaillierten Einblick in diese seltene, aber schwerwiegende psychische Störung geben – von ihrer Definition über Diagnosekriterien bis hin zu Behandlungsmöglichkeiten und aktuellen Forschungserkenntnissen. 3

Definition und Geschichte

Was ist die Dissoziative Identitätsstörung?

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine komplexe psychische Erkrankung, bei der im Bewusstsein einer Person zwei oder mehrere distinkte Identitäten oder Persönlichkeitszustände existieren, die jeweils eigene Muster des Wahrnehmens, Denkens und der Beziehung zur Umwelt aufweisen. Diese verschiedenen Identitäten übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten des Betroffenen. Charakteristisch ist auch das Auftreten von Amnesien, also Gedächtnislücken bezüglich alltäglicher Ereignisse, wichtiger persönlicher Informationen oder traumatischer Erlebnisse. 2

Historische Entwicklung der Diagnose

Der Begriff „multiple Persönlichkeitsstörung“ wurde erstmals im späten 19. Jahrhundert verwendet. Wegweisende Fälle wie der von „Anna O.“, die von Josef Breuer und Sigmund Freud behandelt wurde, oder der Fall von „Miss Beauchamp“, dokumentiert von Morton Prince, legten den Grundstein für das Verständnis der Störung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts unterlag die Diagnose starken Schwankungen in ihrer Akzeptanz und Häufigkeit. 4

Mit der Einführung des DSM-III im Jahr 1980 wurde die multiple Persönlichkeitsstörung erstmals offiziell als eigenständige Diagnose anerkannt. Im DSM-IV (1994) erfolgte dann die Umbenennung in „Dissoziative Identitätsstörung“, um den zugrundeliegenden Mechanismus der Dissoziation stärker zu betonen und weniger auf die Vorstellung separater „Persönlichkeiten“ zu fokussieren. Diese Bezeichnung wurde im DSM-5 und ICD-11 beibehalten und spiegelt das moderne Verständnis der Störung besser wider. 3

Klinisches Erscheinungsbild und Symptome

Kernsymptome

Die dissoziative Identitätsstörung manifestiert sich durch mehrere charakteristische Symptome:

  1. Präsenz multipler Identitäten: Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände oder Identitätsanteile, oft mit eigenen Namen, Charakteristiken, Stimmen und sogar physiologischen Reaktionen. Manche dieser Identitäten können unterschiedliche Altersgruppen, Geschlechter oder kulturelle Hintergründe repräsentieren. 2
  2. Wechsel zwischen den Identitäten: Diese werden als „Switching“ bezeichnet und können durch stress- oder traumabezogene Trigger ausgelöst werden. Der Wechsel kann abrupt oder graduell erfolgen und für Außenstehende durch Veränderungen in Mimik, Stimme, Körperhaltung oder Verhalten erkennbar sein. 3
  3. Amnesien und Gedächtnislücken: Betroffene erleben häufig Lücken in ihrer autobiografischen Erinnerung oder unerklärliche Zeitverluste. Sie können sich in unbekannten Umgebungen wiederfinden oder persönliche Gegenstände entdecken, die sie nicht erworben haben. 2
  4. Depersonalisation und Derealisation: Das Gefühl, vom eigenen Körper losgelöst zu sein oder die Umgebung als unwirklich wahrzunehmen, tritt bei vielen Betroffenen auf. 4

Begleitsymptome und komorbide Störungen

Neben den Kernsymptomen treten häufig weitere Beschwerden auf:

  • Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität
  • Schlafstörungen und Alpträume
  • Depressive Symptome und Ängste
  • Somatoforme Beschwerden ohne klare organische Ursache
  • Emotionale Instabilität
  • Substanzmissbrauch als Selbstmedikation
  • Zwangssymptome und phobische Ängste 1

Etwa 70% der Patienten mit DIS erfüllen auch die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Weitere häufige Komorbiditäten sind Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese Überschneidungen erschweren oft die korrekte Diagnosestellung. 3

Ursachen und Entstehung

Traumabasiertes Verständnis

Die aktuelle Forschung betrachtet die dissoziative Identitätsstörung primär als eine schwerwiegende traumabedingte Entwicklungsstörung. Bei bis zu 90% der diagnostizierten Fälle lassen sich schwere, wiederholte Traumatisierungen in der Kindheit nachweisen. 3

Die Entstehung der DIS wird durch das Traumamodell erklärt: Wenn ein Kind (meist vor dem 6. Lebensjahr) schweren, wiederholten Traumata wie physischem oder sexuellem Missbrauch, emotionaler Vernachlässigung oder anderen extremen Stresssituationen ausgesetzt ist, kann es zur Entwicklung von Dissoziationsmechanismen kommen. Da das kindliche Gehirn noch in der Entwicklung ist, kann dieser Mechanismus zur Bildung separater Bewusstseinsanteile führen, die unterschiedliche Aspekte des Traumas oder des emotionalen Erlebens abspalten und verwahren. 1

Neurobiologische Grundlagen

Neurobiologische Forschung hat gezeigt, dass frühe Traumatisierung zu Veränderungen in der Hirnentwicklung führen kann, besonders in Arealen, die für die Stressregulation, Emotionsverarbeitung und Gedächtnisintegration zuständig sind. MRT-Studien bei DIS-Patienten haben strukturelle und funktionelle Unterschiede im Hippocampus, der Amygdala und präfrontalen Regionen nachgewiesen. 4

Auch das Stresshormon Cortisol und die Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse zeigen bei DIS-Betroffenen häufig Auffälligkeiten, die mit chronischer Traumatisierung in Zusammenhang stehen. Diese neurobiologischen Befunde unterstützen das Verständnis der DIS als traumabasierte Erkrankung. 1

Diagnosekriterien und Diagnostik

Kriterien nach DSM-5

Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der American Psychiatric Association werden folgende Kriterien für die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung definiert:

A. Störung der Identität, charakterisiert durch zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände oder Erfahrungen des Besessenseins. Dies beinhaltet eine markante Diskontinuität im Identitätserleben und der Selbstwahrnehmung.

B. Wiederkehrende Lücken in der Erinnerung an alltägliche Ereignisse, wichtige persönliche Informationen und/oder traumatische Ereignisse, die über gewöhnliche Vergesslichkeit hinausgehen.

C. Die Symptome verursachen klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

D. Die Störung ist nicht Teil kulturell akzeptierter religiöser oder kultureller Praktiken.

E. Die Symptome sind nicht auf die physiologischen Wirkungen einer Substanz oder eines anderen medizinischen Zustands zurückzuführen. 3

Kriterien nach ICD-11

In der International Classification of Diseases (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation wird die dissoziative Identitätsstörung unter dem Code 6B64 geführt und wie folgt definiert:

Die dissoziative Identitätsstörung ist gekennzeichnet durch Unterbrechungen der Identität, bei denen die Person zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände aufweist. Jeder Persönlichkeitszustand umfasst ein einzigartiges Muster des Erlebens, der Wahrnehmung, der Konzeptualisierung und der Beziehung zum Selbst, zum Körper und zur Umgebung. Mindestens zwei dieser Persönlichkeitszustände übernehmen wiederkehrend die Kontrolle über die Person.

Die Störung ist mit deutlichen Lücken in der Erinnerungsfähigkeit für wichtige persönliche Informationen, alltägliche Ereignisse und traumatische Ereignisse verbunden, die über gewöhnliche Vergesslichkeit hinausgehen. Die Symptome sind nicht besser durch eine andere psychische und Verhaltensstörung oder durch eine Erkrankung des Nervensystems oder durch die Wirkung einer Substanz oder von Medikamenten auf das zentrale Nervensystem erklärt. 2

Diagnostische Verfahren und Instrumente

Die Diagnose der DIS erfordert eine umfassende klinische Beurteilung durch erfahrene Fachleute. Folgende diagnostische Instrumente haben sich bewährt:

  1. Strukturierte klinische Interviews: Das Structured Clinical Interview for DSM-5 Dissociative Disorders (SCID-D) gilt als Goldstandard für die Diagnose dissoziativer Störungen. Es umfasst fünf dissoziative Symptombereiche: Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, Identitätsverwirrung und Identitätswechsel. 3
  2. Selbstbeurteilungsskalen: Der Dissociative Experiences Scale (DES) ist ein weitverbreitetes Screening-Instrument mit 28 Items, das das Ausmaß dissoziativer Erfahrungen erfasst. Ein Wert über 30 kann auf eine dissoziative Störung hinweisen und sollte zu einer weiteren klinischen Abklärung führen. 1
  3. Spezifische Diagnoseinstrumente: Der MID (Multidimensional Inventory of Dissociation) und der DDIS (Dissociative Disorders Interview Schedule) sind spezialisierte Instrumente zur Erfassung dissoziativer Symptome und der DIS im Besonderen. 4
  4. Differentialdiagnostik: Besonders wichtig ist die Abgrenzung zu anderen Störungen mit ähnlicher Symptomatik wie Borderline-Persönlichkeitsstörung, komplexer PTBS, Schizophrenie oder bipolaren Störungen. Auch neurologische Erkrankungen, Substanzkonsum und kulturelle Phänomene müssen ausgeschlossen werden. 3

Differentialdiagnosen und Fehldiagnosen

Häufige Verwechslungen

Die dissoziative Identitätsstörung wird häufig fehldiagnostiziert, was zu einer durchschnittlichen Verzögerung der korrekten Diagnose von 5-7 Jahren führt. Die häufigsten Fehldiagnosen sind:

  1. Schizophrenie: Das „Stimmenhören“ bei DIS (interne Kommunikation zwischen Identitätsanteilen) wird oft mit psychotischen Symptomen verwechselt. Anders als bei Schizophrenie werden die Stimmen jedoch als Teil des Selbst erlebt und haben identitätsbezogene Inhalte. 3
  2. Bipolare Störung: Stimmungsschwankungen und abrupte Verhaltensänderungen bei Identitätswechseln können fälschlicherweise als manische oder depressive Episoden interpretiert werden. 1
  3. Borderline-Persönlichkeitsstörung: Die emotionale Instabilität, Identitätsprobleme und selbstschädigendes Verhalten überschneiden sich mit DIS-Symptomen. Etwa 30% der Patienten mit Borderline-Diagnose erfüllen auch die Kriterien für eine dissoziative Störung. 2
  4. Komplexe PTBS: Die symptomatische Überschneidung ist erheblich, da beide Störungen traumabasiert sind. Der Hauptunterschied liegt im Ausmaß der Identitätsfragmentierung. 4

Kulturelle Aspekte und Fehlinterpretationen

Kulturelle und religiöse Praktiken wie Trance-Phänomene oder spirituelle Besessenheit können mit DIS-Symptomen verwechselt werden. Der entscheidende Unterschied ist, dass kulturell akzeptierte Phänomene in der Regel nicht mit klinischem Leid oder Funktionseinschränkungen verbunden sind und in kontrollierten kulturellen Kontexten stattfinden. 2

Die kontroverse Debatte um „falsche Erinnerungen“ und iatrogene (behandlungsbedingte) Entstehung der DIS hat die Diagnosestellung zusätzlich erschwert. Die aktuelle Forschungslage spricht jedoch überwiegend für die Validität der Störung als eigenständiges Krankheitsbild mit neurobiologischen Korrelaten. 3

Behandlungsansätze

Psychotherapeutische Behandlung

Die Psychotherapie ist die primäre Behandlungsform für die dissoziative Identitätsstörung. Die Internationale Gesellschaft für das Studium von Trauma und Dissoziation (ISSTD) hat evidenzbasierte Behandlungsrichtlinien entwickelt, die einen phasenorientierten Ansatz empfehlen:

  1. Stabilisierungsphase: Etablierung von Sicherheit, Symptomreduktion, Aufbau therapeutischer Beziehung, Entwicklung von Fertigkeiten zur Emotionsregulation und Stressbewältigung. Diese Phase kann Monate bis Jahre dauern. 1
  2. Traumakonfrontationsphase: Bearbeitung traumatischer Erinnerungen unter kontrollierten Bedingungen, mit dem Ziel, diese in die autobiografische Geschichte zu integrieren. Dies geschieht nur, wenn ausreichende Stabilität erreicht wurde. 3
  3. Integrationsphase: Förderung der Kommunikation und Kooperation zwischen den Identitätsanteilen, schrittweise Integration dieser Anteile zu einem kohärenten Selbst. Das ultimative Ziel ist nicht zwangsläufig die vollständige Fusion aller Identitätsanteile, sondern ein harmonisches Zusammenleben und -arbeiten („Kooperation“). 4

Besonders wirksame therapeutische Ansätze umfassen:

  • Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie mit Anpassungen für DIS
  • EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) mit speziellen Protokollen für komplexe Dissoziation
  • Schematherapie für die Bearbeitung früher maladaptiver Schemata
  • Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) für Emotionsregulation und Stresstoleranz
  • Innere-Kind-Arbeit und ähnliche Ansätze zur Bearbeitung kindlicher Traumata
  • Ego-State-Therapie zur Arbeit mit den verschiedenen Identitätsanteilen 1

Die Behandlung ist in der Regel langfristig angelegt und kann 3-5 Jahre oder länger dauern. Essenziell ist eine stabile therapeutische Beziehung mit klaren Grenzen und Strukturen. 3

Stationäre versus ambulante Behandlung

Die meisten DIS-Patienten werden ambulant behandelt, idealerweise mit ein bis zwei Sitzungen pro Woche. Stationäre Aufenthalte können in folgenden Situationen notwendig sein:

  • Akute Suizidalität oder selbstverletzendes Verhalten
  • Schwere Symptomexazerbation nach Traumakonfrontation
  • Fehlende Stabilität im häuslichen Umfeld
  • Therapieresistente Symptome, die eine intensivere Behandlung erfordern 4

Spezialisierte Trauma- und Dissoziationsstationen bieten ein geschütztes Umfeld mit multiprofessionellen Teams, die in der Behandlung komplexer Traumafolgestörungen geschult sind. Der Fokus liegt hier oft auf Stabilisierung und Ressourcenaktivierung. 2

Gruppentherapeutische Ansätze

Ergänzend zur Einzeltherapie können spezifische Gruppenangebote hilfreich sein:

  • Skillsgruppen zum Erlernen von Emotionsregulation und Stresstoleranz
  • Psychoedukative Gruppen zum Verständnis von Trauma und Dissoziation
  • Achtsamkeits- und körperorientierte Gruppen zur Verbesserung der Körperwahrnehmung
  • Kunsttherapeutische Gruppen zur nonverbalen Ausdrucksförderung 1

Wichtig ist dabei, dass die Gruppen traumasensibel geleitet werden und ein sicherer Rahmen gewährleistet ist, in dem potenzielle Trigger erkannt und adressiert werden können. 3

Pharmakologische Behandlung

Grundprinzipien der Medikation

Bei der dissoziativen Identitätsstörung gibt es keine spezifische medikamentöse Behandlung, die auf die Kernsymptome der Dissoziation abzielt. Psychopharmaka werden jedoch häufig zur Behandlung komorbider Symptome und Störungen eingesetzt. Der Einsatz sollte stets adjuvant zur Psychotherapie erfolgen und nicht als alleinige Behandlung. 2

Wichtig ist zu beachten, dass bei DIS-Patienten oft ungewöhnliche oder paradoxe Reaktionen auf Medikamente auftreten können. Dies kann durch unterschiedliche physiologische Reaktionen der verschiedenen Identitätsanteile bedingt sein. Daher ist ein vorsichtiges Dosierungsmanagement mit „Start low, go slow“-Prinzip empfehlenswert. 3

Medikamentengruppen und ihre Anwendung

  1. Antidepressiva:
    • SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) wie Sertralin oder Escitalopram werden häufig bei komorbiden depressiven Symptomen, Angst und PTBS-Symptomen eingesetzt.
    • SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) wie Venlafaxin können bei therapieresistenten depressiven Zuständen und Angst erwogen werden.
    • Trizyklische Antidepressiva werden aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils seltener eingesetzt, können aber bei komorbiden Schmerzsymptomen hilfreich sein. 4
  2. Anxiolytika:
    • Kurzfristiger Einsatz von Benzodiazepinen bei akuten Angstzuständen oder schweren Schlafstörungen.
    • Aufgrund des Abhängigkeitspotenzials und der möglichen Verstärkung dissoziativer Symptome sollten Benzodiazepine bei DIS mit besonderer Vorsicht und nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden.
    • Nicht-benzodiazepine Anxiolytika wie Pregabalin oder Buspiron können Alternativen darstellen. 1
  3. Antipsychotika:
    • Atypische Antipsychotika in niedrigen Dosierungen (z.B. Quetiapin, Aripiprazol) können bei schweren intrusiven Symptomen, Schlafstörungen oder komorbiden psychotischen Symptomen erwogen werden.
    • Der Einsatz sollte zurückhaltend erfolgen, da die Evidenz begrenzt ist und Nebenwirkungen sorgfältig abgewogen werden müssen. 2
  4. Mood Stabilizer:
    • Lamotrigin, Valproat oder Topiramat können bei affektiver Instabilität und Impulskontrollstörungen hilfreich sein.
    • Auch eine stabilisierende Wirkung auf dissoziative Symptome wird von manchen Klinikern berichtet, obwohl die Studienlage hierzu begrenzt ist. 3
  5. Schlafmedikation:
    • Nicht-benzodiazepine Hypnotika (Z-Substanzen), niedrig dosierte Mirtazapin oder Quetiapin, oder pflanzliche Präparate wie Baldrian können bei therapieresistenten Schlafstörungen als Ergänzung zu schlafhygienischen Maßnahmen eingesetzt werden. 4

Grenzen der pharmakologischen Behandlung

Es ist wichtig zu verstehen, dass Medikamente allein die zugrunde liegenden traumatischen Erfahrungen nicht auflösen können. Sie sollten als Unterstützung der Psychotherapie betrachtet werden, um Symptome zu lindern und die therapeutische Arbeit zu erleichtern. 2

Die Medikation sollte regelmäßig überprüft und bei Bedarf angepasst werden. Langfristig ist eine Reduktion der Medikation anzustreben, sobald psychotherapeutische Fortschritte und eine verbesserte Selbstregulation dies ermöglichen. 1

Heilungschancen und Prognose

Faktoren, die den Behandlungsverlauf beeinflussen

Die Prognose bei DIS ist individuell sehr unterschiedlich und wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst:

  1. Frühzeitige Diagnose und Behandlung: Je früher die korrekte Diagnose gestellt und eine adäquate Behandlung eingeleitet wird, desto besser ist in der Regel die Prognose. 3
  2. Schwere und Dauer der Traumatisierung: Besonders frühe, schwere und langandauernde Traumatisierung kann den Behandlungsverlauf komplizieren. 2
  3. Komorbide Störungen: Das Vorliegen zusätzlicher psychischer oder körperlicher Erkrankungen kann die Behandlung erschweren und die Prognose beeinflussen. 1
  4. Soziales Unterstützungssystem: Ein stabiles soziales Netzwerk und unterstützende Beziehungen wirken sich positiv auf den Heilungsprozess aus. 4
  5. Therapeutische Beziehung: Eine vertrauensvolle, stabile therapeutische Beziehung ist ein entscheidender Faktor für den Behandlungserfolg. 3
  6. Ressourcen der Betroffenen: Persönliche Stärken, Resilienz, Intelligenz und kreative Fähigkeiten können als positive Ressourcen im Heilungsprozess genutzt werden. 2

Langzeitergebnisse und Heilungsperspektiven

Langzeitstudien zur DIS-Behandlung zeigen, dass signifikante Verbesserungen möglich sind:

  • Nach adäquater Langzeittherapie berichten 60-80% der Patienten eine deutliche Reduktion dissoziativer Symptome und eine verbesserte Lebensqualität. 1
  • Die vollständige Integration aller Identitätsanteile ist nicht immer das primäre Ziel oder Ergebnis der Behandlung. Viele Betroffene erreichen stattdessen einen Zustand der „harmonischen Multiplizität“, in dem die verschiedenen Anteile bewusst kooperieren können. 4
  • Auch nach erfolgreicher Behandlung können in Stresssituationen dissoziative Symptome wieder auftreten, weshalb Nachsorgeangebote und „Booster-Sitzungen“ sinnvoll sein können. 3
  • Die Fähigkeit zur Arbeits- und Beziehungsfähigkeit kann sich deutlich verbessern, selbst wenn einige Restsymptome bestehen bleiben. 2

Es ist wichtig zu betonen, dass Heilung bei DIS nicht bedeutet, dass traumatische Erfahrungen ungeschehen gemacht werden können. Vielmehr geht es darum, dass diese Erfahrungen in die Lebensgeschichte integriert werden und ihren überwältigenden Charakter verlieren. 3

Leben mit DIS und Selbsthilfe

Alltagsbewältigung für Betroffene

Menschen mit DIS entwickeln oft kreative Strategien, um ihren Alltag trotz der Herausforderungen zu bewältigen:

  1. Kommunikationssysteme: Viele Betroffene entwickeln interne Kommunikationssysteme zwischen den Identitätsanteilen, etwa durch Tagebücher, Notizen oder innere Dialoge. 4
  2. Strukturierung des Alltags: Feste Routinen und Zeitpläne können helfen, Kontinuität zu bewahren und Orientierung zu bieten, wenn Identitätswechsel auftreten. 2
  3. Triggermanagement: Das Erkennen persönlicher Trigger und die Entwicklung von Strategien zum Umgang damit sind zentral für die Alltagsbewältigung. 1
  4. Grounding-Techniken: Methoden zur Erdung und Gegenwartsorientierung helfen bei dissoziativen Episoden, den Kontakt zur Realität wiederherzustellen. 3
  5. Selbstfürsorge: Regelmäßige Schlafzeiten, ausgewogene Ernährung, Bewegung und Entspannungstechniken unterstützen die psychische Stabilität. 4

Selbsthilfegruppen und Peer-Support

Neben professioneller Behandlung kann der Austausch mit anderen Betroffenen sehr wertvoll sein:

  • Spezialisierte Selbsthilfegruppen für Menschen mit dissoziativen Störungen bieten einen geschützten Raum für Erfahrungsaustausch.
  • Online-Communities und Foren ermöglichen Kontakt zu anderen Betroffenen, auch wenn lokale Angebote fehlen.
  • Peer-Support durch Menschen, die bereits weiter im Heilungsprozess fortgeschritten sind, kann Hoffnung und praktische Bewältigungsstrategien vermitteln. 2

Der Kontakt zu anderen Betroffenen sollte idealerweise begleitend zur professionellen Therapie stattfinden, um eine Stabilisierung zu gewährleisten. 3

Informationen für Angehörige und Bezugspersonen

Angehörige und Bezugspersonen können eine wichtige unterstützende Rolle einnehmen:

  1. Respektvoller Umgang: Die verschiedenen Identitätsanteile sollten mit Respekt und ohne Wertung behandelt werden. Es ist hilfreich, sie als unterschiedliche Aspekte einer Person zu verstehen, die alle eine wichtige Funktion im Überlebenssystem haben.
  2. Klare Kommunikation: Eindeutige, direkte Kommunikation ohne Doppelbotschaften hilft Betroffenen, Vertrauen aufzubauen und Sicherheit zu empfinden.
  3. Geduld und Verständnis: Die Behandlung ist ein langwieriger Prozess mit Fortschritten und Rückschlägen. Angehörige sollten realistische Erwartungen entwickeln und ihre eigenen Grenzen kennen.
  4. Selbstfürsorge: Auch Angehörige benötigen Unterstützung, sei es durch eigene Therapie, Angehörigengruppen oder Freiräume zur Regeneration. Die Begleitung eines Menschen mit DIS kann emotional belastend sein.
  5. Krisenmanagement: Es ist hilfreich, gemeinsam mit den Therapeuten und Betroffenen Krisenpläne zu entwickeln, die klare Handlungsschritte für Notfallsituationen festlegen.

Aktuelle Forschung und Entwicklungen

Neurobiologische Forschung

Die neurobiologische Forschung zur DIS hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gemacht:

  • Neuroimaging-Studien zeigen strukturelle und funktionelle Unterschiede in Hirnarealen, die mit Gedächtnis, Emotionsregulation und Selbstwahrnehmung zusammenhängen. Insbesondere der Hippocampus, die Amygdala und präfrontale Regionen weisen Auffälligkeiten auf, die mit früher Traumatisierung assoziiert sind.
  • PET- und fMRT-Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Identitätswechseln tatsächlich unterschiedliche neuronale Aktivierungsmuster auftreten, was die neurobiologische Basis der Störung unterstreicht.
  • Genetische Studien erforschen zunehmend die Rolle epigenetischer Veränderungen durch frühe Traumatisierung, die zur Entwicklung dissoziativer Symptome beitragen könnten.

Neue Behandlungsansätze

Innovative therapeutische Ansätze ergänzen zunehmend die etablierten Behandlungsmethoden:

  1. Neurofeedback und Biofeedback: Diese Methoden können helfen, die Selbstregulationsfähigkeiten zu verbessern und physiologische Reaktionen bei Triggerkonfrontation zu kontrollieren.
  2. Körperorientierte Therapien: Da Traumata „im Körper gespeichert“ werden, gewinnen Ansätze wie Somatic Experiencing, Sensomotorische Psychotherapie oder traumasensitives Yoga an Bedeutung.
  3. Achtsamkeitsbasierte Interventionen: Adaptierte MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) oder DBT-Elemente können die Gegenwartsorientierung fördern und Dissoziation entgegenwirken.
  4. Virtuelle Realität: Experimentelle Ansätze nutzen VR-Technologie, um in geschütztem Rahmen die Körperwahrnehmung und Integration verschiedener Identitätszustände zu fördern.
  5. Online-Interventionen: Digitale Therapiemodule zur Stabilisierung und Psychoedukation können die Face-to-Face-Therapie ergänzen und die Versorgung verbessern, besonders in unterversorgten Regionen.

Gesellschaftliche Entwicklungen und Entstigmatisierung

Auch im gesellschaftlichen Umgang mit DIS sind Veränderungen erkennbar:

  • Die mediale Darstellung entwickelt sich langsam von sensationslüsternen oder verzerrten Porträts hin zu realistischeren, empathischeren Darstellungen der Störung.
  • Betroffenenverbände und Fachgesellschaften betreiben zunehmend Aufklärungsarbeit, um Mythen über DIS zu entkräften und das Bewusstsein für traumabedingte Störungen zu schärfen.
  • In der Ausbildung von Psychotherapeuten und Ärzten findet das Thema Trauma und Dissoziation mehr Beachtung, was langfristig zu früherer Erkennung und besserer Behandlung führen kann.
  • Die Fortentwicklung der Diagnosesysteme ICD und DSM hat zu einer verbesserten Definition und Einordnung der Störung geführt, die weniger stigmatisierend und fachlich präziser ist.

Rechtliche und ethische Aspekte

Juristische Fragestellungen

Die dissoziative Identitätsstörung wirft komplexe rechtliche Fragen auf:

  1. Schuldfähigkeit: In Strafverfahren kann die Frage nach der Schuldfähigkeit bei DIS besonders komplex sein. Entscheidend ist oft, inwieweit die handelnde Teilidentität das Unrecht der Tat einsehen und nach dieser Einsicht handeln konnte. In einigen Fällen wurden Betroffene als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig eingestuft.
  2. Zeugenaussagen: Die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen bei Menschen mit DIS wird kontrovers diskutiert. Besonders bei traumabezogenen Erinnerungen kann die Bewertung der Aussagen schwierig sein.
  3. Geschäftsfähigkeit: In zivilrechtlichen Fragen kann die Geschäftsfähigkeit betroffen sein, wenn Verträge oder Rechtsgeschäfte durch unterschiedliche Identitätsanteile ohne Wissen der anderen abgeschlossen werden.
  4. Betreuungsrecht: Bei schweren Verlaufsformen kann die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung für bestimmte Lebensbereiche erforderlich sein, um die Betroffenen zu schützen.

Ethische Betrachtungen in der Behandlung

Die Therapie von Menschen mit DIS stellt besondere ethische Anforderungen an Behandler:

  1. Informierte Einwilligung: Die Einwilligung in therapeutische Maßnahmen sollte möglichst von allen oder zumindest den zentralen Identitätsanteilen eingeholt werden.
  2. Vertraulichkeit: Der Umgang mit Informationen, die nur einzelnen Identitätsanteilen bekannt sind, erfordert besonderes Fingerspitzengefühl.
  3. Therapeutische Neutralität: Die verschiedenen Identitätsanteile sollten gleichermaßen respektvoll behandelt werden, ohne einzelne zu bevorzugen oder abzuwerten.
  4. Machtgefälle: Die therapeutische Beziehung ist durch ein Machtgefälle gekennzeichnet, das bei traumatisierten Menschen besonders sensibel gehandhabt werden muss, um Retraumatisierung zu vermeiden.

Ressourcen und Hilfeangebote

Spezialisierte Behandlungseinrichtungen

In Deutschland gibt es verschiedene spezialisierte Einrichtungen für die Behandlung dissoziativer Störungen:

  • Traumazentren und spezialisierte Traumastationen in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken
  • Spezialsprechstunden für dissoziative Störungen an Universitätskliniken
  • Schwerpunktpraxen für Traumafolgestörungen im niedergelassenen Bereich

Die Wartezeiten sind allerdings oft lang, und nicht alle Regionen sind gleichermaßen gut versorgt. Einen ersten Überblick bieten die Therapeutensuchfunktionen der Psychotherapeutenkammern oder spezialisierte Traumanetzwerke.

Literatur und Informationsmaterial

Zur Information für Betroffene und Angehörige eignen sich folgende Ressourcen:

  1. Fachbücher:
    • „Dissoziative Störungen erkennen und behandeln“ (Michaela Huber)
    • „Die verlorene Seele: Multiple Persönlichkeit und dissoziative Identitätsstörung“ (Frank W. Putnam)
    • „Der innere Garten: Ein achtsamer Weg zur persönlichen Veränderung“ (Luise Reddemann)
  2. Patientenratgeber:
    • „Traumafolgestörungen bewältigen“ (Michaela Huber)
    • „Sicherer Ort? Dissoziative Identitätsstörung bei Komplextrauma“ (Ellert Nijenhuis)
  3. Online-Ressourcen:
    • Webseiten von Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD)
    • Informationsportale zu Traumafolgestörungen
    • Psychoedukative Videos und Apps zur Unterstützung der Therapie

Selbsthilfeorganisationen

Der Austausch mit anderen Betroffenen kann eine wertvolle Ergänzung zur Therapie sein:

  • „Vielfalt e.V.“ – Selbsthilfeorganisation für Menschen mit DIS
  • NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) vermittelt Kontakte zu lokalen Selbsthilfegruppen
  • Online-Communities wie „Trauma und Dissoziation“ bieten moderierten Austausch

Fazit und Ausblick

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine komplexe, aber behandelbare psychische Erkrankung, die ein tiefgreifendes Verständnis des Zusammenhangs zwischen früher Traumatisierung und Identitätsentwicklung erfordert. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat wesentlich zum Verständnis der neurobiologischen Grundlagen und zur Entwicklung wirksamer Behandlungsansätze beigetragen.

Trotz der Komplexität der Störung und der oft langwierigen Behandlung ist eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität und Funktionsfähigkeit für die meisten Betroffenen erreichbar. Der Weg dorthin erfordert jedoch spezialisierte Behandlung, Geduld und ein unterstützendes Umfeld.

Mit zunehmender Entstigmatisierung, verbesserter Früherkennung und kontinuierlicher Weiterentwicklung der Behandlungsansätze besteht Hoffnung, dass Menschen mit DIS in Zukunft schneller die richtige Diagnose und adäquate Hilfe erhalten. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Forschung, Klinik und Selbsthilfe wird dabei weiterhin eine Schlüsselrolle spielen.

Die Anerkennung der Realität dieser Störung und das Verständnis ihrer traumabedingten Entstehung sind wichtige gesellschaftliche Aufgaben, die dazu beitragen können, das Leid der Betroffenen zu lindern und ihnen ein Leben in Würde und mit größtmöglicher Autonomie zu ermöglichen.


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Von Bruno Schelig

Seit 2012 im Internet unterwegs und freischaffend tätig. Die Freiheit des Geistes über alle Regeln, jeden Bestand und gegen jedwedes Schubladendenken. Die Intention ist Wissensteilung, wo immer auch möglich. Bei YouTube und Amazon Bruno Schelig suchen.

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